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Als ob wir uns schon lange kennen, sagt man mir.

Zwischen uns ist es so vertraut, sagt man mir.

Sie irren sich.

Ich lasse sie fühlen, dass sie mich kennen.

Ich verberge meine Angst, meine Aggression, meine Eitelkeit und meinen Ekel, und sie können sich nicht vorstellen, dass ich nur eine Hülle bin, so papierdünn, dass ich fürchte, sie zerreißt mir.

Doch ich lächle und rede und mein Lächeln und die Worte machen die Papierhaut undurchlässig.

Mein Krieg tobt in mir drin.

Ich schenke ihnen verachtende Bewunderung.

Ich spende ihnen kalte Liebe, und sie merken es nicht.

Sie denken, sie kämen mir nahe, doch so nah sie mir kommen, so sehr gehe ich von ihnen weg.

Wir berühren uns nie.

Sie greifen bloß nach einem Körper, einer Maske, einem Spiegel, einem Licht.

Ich aber throne auf den dunklen Wolken tief in mir und schrei und kratze ihnen ihr falsches Lächeln aus dem Gesicht.

Trotzdem sind unsere ersten Tage die glücklichsten.

Ich fühle es einfach, sagt er, wir kennen uns schon ewig, und ich antworte, wir sind so vertraut miteinander, obwohl wir doch eigentlich Fremde sind, obwohl wir uns gar nicht richtig kennen, erst seit ein paar Stunden, eigentlich erst seit einer Nacht.

Stimmt, sagt er, das kenne er gar nicht, und ich will gerade sagen, das kenne ich sehr gut, doch dann schweige ich lieber, weil ich heute Nacht nicht alleine sein will.

Ich verschweige, was ich im Geheimen weiß.

Ich sage nicht, dass ich ihn empfinden lasse, was er fühlen will.

Ich bin er.

Wir wollen dasselbe. Wir sind derselbe Mensch.

Hebt er den Arm, ist es meine Hand.

Ist er hungrig, dann mit meinem Bauch.

Singt er ein Lied, stammt es von meinem Lieblingssänger.

Ich werde ihm unheimlich.

Er fragt: Wer bist Du?

Und weil ich seine Dämlichkeit nicht ertragen kann, antworte ich, dass ich ein Wechselwesen bin.

Seine Augen schlittern über meinen Körper, über mein Gesicht.

Sie flehen nach einer Nische und finden sie nicht.

Sie durchsuchen meine Augen, doch sehen mich nicht.

Wer bist Du?, schreit er.

Ich trage viele Masken, sage ich, und in diesem Augenblick ist es dein Gesicht.

© Anna Fastabend, 2016